Dorfgeschichten - Romadur

Das Dorf hat einen schlechten Ruf. In den Nachbarorten und im ganzen Landkreis gibt es Abzählreime und Schmählieder. Da kommen Räuber vor und Schlägereien. Es herrscht ein grober Zungenschlag.

 

Sie hat das nie verstanden. Im Städtchen nebenan geht es samstagnachts auch nicht vornehm zu, obwohl die einen Tennisclub haben. Aber wer braucht schon Tennis, wenn es Handball gibt? Und wenn der Schiri schiebt, muss ein Riegel vor. Das nächste Spiel ist in zwei Wochen. Ob es richtig ist, den Lackaffen mit Pfeife in den Schweinestall zu sperren? Kann man besprechen. Muss. Wird auch. Am Sonntag beim Frühschoppen geht es hoch her deswegen. Moderation war ein fremdes Wort damals beziehungsweise die Ansage in der Sportschau.

 

Sie holt den Vater immer ab zum Sonntagsbraten. Er vergisst manchmal die Zeit beim Schafkopf, kommt schwer los von den Karten. Das versteht sie gut. Wie an der spannendsten Stelle im Buch. Er ist mittendrin, Stirn gerunzelt, die Knöchel knallen auf den Tisch. Das tut anscheinend nicht weh im Gefecht. Was für ein Blatt. Zum Schiri im Stall gestern hat er nichts zu sagen. Interessiert ihn auch nicht. Er ist Fan vom Club. Drei Exemplare der Nürnberger Abendzeitung werden deshalb jeden Tag in den Vivo-Laden geliefert. Es gibt noch 2 andere Clubberer, verschworene Abweichler. Der Rest ist Handball oder Bayern München.

 

Sie holt ihn gerne ab, auch wenn es manchmal dauert, bis er sich losreißt. Eine Auserwählte ist sie. Sich durchkämpfen zum Vater im Gebrüll und Zigarettendampf. Da ist er, da hinten, sagen sie. Da ist sie, Deine Große. Er nickt. Bestellt ein Eis. Eine Runde noch. Egal der Braten mit der Mutter.

 

 

 

Der Mutter ist es nicht egal. An keinem Sonntag. Was denkst du dir eigentlich, Kartenspielenkartenkartenkarten, gibt’s sonst nichts auf der Welt, die Kinder haben Hunger. Haben sie nicht. Sie haben den Kopf eingezogen und würden lieber nach dem Sturm essen. Oder gar nicht. Oder später bei der Oma. Wichtig ist nur, dass bei Flipper alles wieder ruhig ist. Und das Wetter muss schlecht sein. Spazierengehen kommt nicht an Flipper ran, nicht mal mit Eis zum Schluss.

 

Egal ist der Mutter gar nichts. Kniestrümpfe im April, Noten ab 3, Umgang mit Gesocks. Nur wenn das Konto bockt nach der Quelle-Lieferung, bleibt sie ruhig. So schöne Schuhe.

 

Dem Vater ist fast alles egal. Spielt keine Rolle, sagt er oft. Er sieht nicht auf vom Kicker, solange die Stange Stuyvesant hält, Nürnberg in der 1. Liga ist und keiner was Böses sagt über Familie, Land und Leute. Hier sind sich die Eltern einig. Das sind die heiligen Drei, der Herr sei mit uns. Obwohl die Kirche ansonsten Larifari ist.

 

Sie fragt sich, warum die ganze Aufregung. Wenn man toll ist, spielt es doch keine Rolle, wenn die anderen das nicht einsehen. Vielleicht hängt es mit dem „Unter“ im Regierungsbezirk zusammen. Es ist nicht schön, niedrig angesiedelt zu sein. Im Tal der Menschheitsentwicklung. Es fallen einem direkt Untermenschen ein. Klein sind die, schwach und nicht ganz vollwertig. Wie Kinder. Nein, viel schlimmer. Aus Kindern kann noch was werden, wenn sie nicht von ganz unten kommen.

 

Oberbayern dagegen. Oberbayern. Da gibt es Berge mit Schön, wo du hinguckst. Fröhliche Kühe, treue Geranien und Männer mit Bass, dass es dich geniert. Das denkt sie viel später. Als sie weiß, dass ein längliches Straßendorf das Allerletzte ist, vom Teufel im Galopp geschissen. An und für sich und touristisch sowieso. Dass sie im Grunde Hessen sind, maximal Badenzer, allein das Gebabbel. Das ist kein gutes Gefühl, trotz Noten unter 3 und der unerschrockenen Mutter, die nie auszog, das Fürchten zu lernen.

 

Im Dorf hätte man Heidi nicht drehen können. Wenn, wäre Heidi gern nach Frankfurt gefahren, trotz Opa Vinzenz und dem Mofa-Peter. Frollein Rottenmeier hätte ihr gezeigt, wie man anständig Pampelmusen isst. Laut lachen wäre zwar verboten, aber alles hat seinen Preis. Auch der Grapefruitlöffel mit Zacken rundherum, dass man denkt, es ist ein Straflöffel für Kinder, die keinen Grießbrei mögen.

 

 

 

Immerhin ist die Schule gut bayrisch. Streng, aber wertvoll. Mit einer bayrischen fünf in Mathe bist du Klassenbester in Baden-Württemberg. In Hessen gelten bayrische Versager als hochbegabt. Außerdem ist die Frankfurter Bagage rot durch und durch. Schaut euch mal das Bahnhofsviertel an.

 

Manchmal hat sie den Verdacht, dass die Lehrer nicht freiwillig im Odenwald gelandet sind. Wie Sträflinge oder mindestens Verbrecher kommen sie ihr vor. Der Geschichtslehrer ohne Bein, wie Captain Flint auf der Schatzinsel. Sie machen Abitur mit Geschichte bis kurz vor 33. Keine Zeit mehr für die tausend Jahre danach. Macht nichts, man muss die Historie beispielhaft sehen. Große Männer, große Taten.

 

Der Referendar in Bio hat eine gehäkelte Krawatte an, die sich dauernd einrollt. Sie denkt, der ist falschrum und weiß sich nicht anders zu helfen. Ein netter Kerl, aber ohne Biss. Er lädt sie nach Hause ein und spielt stundenlang Gitarre. So wird das nichts.

 

 

 

Ganz früher war es auch schon so. Die Mönche wurden in den Wald geschickt, saßen in ihrer Zelle und sollten das Wort Gottes verkünden, wenn einer vorbeikam. Sie liest, dass es lichte Buchenwälder waren damals, Eichen auch. Aber sie hat nachtfinstere Tannen im Kopf, wie im Schwarzwald.

 

Aus dem dumpfen Druck und dieser quetschenden Enge, aus der langen, niemals ehrwürdigen Nacht, geht’s nur raus mit Bildung und Streben. Das leuchtet ihr ein. Ist aber schwierig und nicht der einzige Weg. Man kann auch Geld verdienen mit irgendwas. Große Autos kaufen, Mallorca, Dominikanische.

 

Aber Hand aufs Herz, ein balearisches Würstchen hat nichts zu tun mit einem halben Dutzend Nürnberger. Die Leute geben sich Mühe, sprechen oft auch ein bisschen Deutsch. Das ist wie bei den Mohammedanern, die seit neuestem mit dem Vater arbeiten. Brave Leute, aber still und stumm. Und insgeheim stolz, sagt er. Auf was um Himmels Willen, fragt man sich. Das Mittagessen, das sie dabeihaben, riecht streng, sagt er. Der Romadur fällt ihr ein, den er so gern isst. Sie sagt aber nichts. Nein, gefährlich sind die nicht. Wissen, wo ihr Platz ist.

 

 

 

Sie drängelt jetzt, es ist noch später als sonst. Die Mutter wird toben. Der Krankenwagen ist wieder weg. Schiri hört sie, Herzattacke.

 

 

Foto: Elaine Humphries

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Martin (Sonntag, 13 Dezember 2020 17:31)

    Sehr schön geschrieben liebe Susanne,
    das Leben im Odenwald war nicht einfach. Erst recht nicht als Cluberer. Und Kind von einem „Original“.
    Aber genau deshalb sind Wir so wie Wir sind. Ein bisschen behämmert aber liebenswert :-)
    Liebe Grüße

  • #2

    Susanne (Sonntag, 13 Dezember 2020 18:01)

    Also gut, lieber Martin, wenn Du das sagst :)

  • #3

    Bettina (Sonntag, 20 Dezember 2020 15:27)

    ich weiß,glaube ich.... von wem und was da geschrieben steht!
    was auch wichtig wäre,wenn du am 22sten <Dezember auf deine Türklingel achtest,und eventuell nicht erst um 14 Uhr aufwachst...für alle Fälle mal...so nebenbei