Anpassung

Pfirsiche sind am schlimmsten. Sie stehen ganz oben auf der Liste. 276 Punkte zum Aufregen habe ich mittlerweile gesammelt. Ich schreibe sie auf die Rückseite von Kalenderblättern. Damit mir nichts durchgeht. Manchmal vergesse ich den Södermarkus von gestern, weil heute wieder die Bahn oder der Olaf mit Alleswirdgut.

 

Der Kalender ist abgelaufen. Diogenes-Verlag 2022. Titel: Abreißen, loslassen. Das hat natürlich mit Zeitgeist zu tun. Wer die schlimmen Sachen loslässt, so irgendwie sehr kompliziert und innerlich, dem schaden sie nicht mehr. Das könnte man auch Wunder nennen. Es sei denn, man ist ein waschechter Yogi und kämpft seit 63 Jahren jeden Tag um die Leichtigkeit des Seins. Einzwei Wochen Übung in Achtsamkeit reichen da nicht. Ist zu befürchten.

 

Aber vielleicht will ich mich auch nur aufregen. Das wollen ja viele. Ist schließlich ein prächtiges Lebensgefühl. Die Klimakleber auf der Straße anfahren zum Beispiel. Mit rotem Kopf außen und innen viel Sinn für Gerechtigkeit, also Eigeninteresse. Tot nicht, nein, um Himmels willen. Allerhöchstens aus Versehen. Obwohl, manche hätten’s bestimmt verdient. Lassen ja nicht mal den Notarzt durch.

 

Den ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit attestieren wir sowieso am liebsten uns selber. Als ob die meisten Anderen an der Stelle unterbelichtet wären. Dabei hat jedes Kind eine Ahnung davon, dass dem Paul die Schaufel gehört. Aber wenn ich sie doch so doll haben will?

 

Das ist wie mit dem teuren Geschmack, den viele für sich reklamieren. Als wollten nicht alle gut essen, schön wohnen und hübsch aussehen. Aber wir können wahrscheinlich nur ernsthaft wünschen, was halbwegs in Reichweite ist. Vielleicht geht nicht alles auf einmal. Also die Nomos Uhr UND das Missoni Kleid UND die Badeschlappen von Gucci runtergesetzt auf 350. Aber wer sich die Uhr leistet, nur aus Geschmacksgründen versteht sich, hat schomma ein ordentliches Einkommen oder einen anständigen Kreditrahmen.

 

Das hat offenbar mit der prinzipiell hochentwickelten Anpassungsfähigkeit des Menschen an seine Lebensumstände zu tun. Wo das nicht klappt, liegt eine Anpassungsstörung vor. Das habe ich kürzlich gelernt. Das heißt in der Internationalen Klassifizierung von Krankheiten ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases, Injuries and Causes of Death). Ist damit eine anerkannte Krankheit und kann kassenärztlich abgerechnet werden.

 

Nach allem, was man so lesen kann, scheint diese Erkrankung epidemisch die halbe Welt erfasst zu haben. Anders lässt sich nicht erklären, wieso wir unbedingt weiter Autofahren wollen wie verrückt und uns auf keinen Fall von „Ökofaschisten“ die Wurst verbieten lassen. Wir wollen die Welt an unsere Gefühle und Wünsche anpassen statt umgekehrt. Das ist definitiv total bekloppt und kann nicht gutgehen. Andernfalls könnte ein Stalker seine verlorene Geliebte durch hartnäckige Belästigung zurückgewinnen. Mir ist bis jetzt kein Fall dieser Art bekannt.

 

Die ganze Entwicklung ist außerdem urkomisch. „Angepasst“ war in den 60er und 70er Jahren ein böses Schimpfwort unter sagen wir mal Linksliberalen, später Grünen. Nichts war verachtungswürdiger, als dem Elternwunsch zu folgen. Nichts erbärmlicher als ein Bausparvertrag und solider Berufsweg.

 

Vielleicht sind die Grünen mittlerweile die einzigen gereiften Erwachsenen. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich seit 10 Jahren keine lecker reifen Pfirsiche gegessen habe. Tomaten auch nicht.

 

Und ICD-10 kann zum Tode führen. Siehe oben.

 

Foto: Susanne

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Sylvia Völker (Montag, 24 Juli 2023 16:14)

    Bärenstark!
    Unsere Geschmacksnerven sind ja auch schon so angepasst, dass die Heidelbeeren im Wald nicht mehr schmecken...